KUNST. WISSENSCHAFT. FORSCHUNG

Territoriale Machtkämpfe und Bedeutungshoheit für die Welterklärung

Vortrag bei der Jahrestagung des Österreichischen Wissenschaftsrates 2015 

 

Anton Zeilinger’s quantenphysikalische Experimente, ausgestellt bei der weltweit wichtigsten Kunstausstellung, der nur alle 4 Jahre in Kassel stattfindenden Dokumenta und wenig später in einer der prominentesten Kunstgalerien in Wien haben im Ambiente des Systems Kunst   Aufsehen erregt und Verunsicherung erzeugt – obwohl oder vielleicht auch weil Zeilinger immer wieder betont hat, dass er als Wissenschafter und nicht als Künstler zur Documenta eingeladen sei und dass die dort gezeigten Exponate keine Kunstwerke sondern strenge wissenschaftliche Versuchsanordnungen seien.

Peter Weibel hat einmal Wissenschaft und Kunst als getrennte Schwestern bezeichnet. So erklärt sich die immer wieder erlebbare Sehnsucht dieser beiden Schwestern nach einander.

„In beiden Bereichen zählt Kreativität sehr viel. In beiden Bereichen ist die Suche nach Neuem wichtig: im Falle der Wissenschaft jene nach neuen Möglichkeiten, etwas zu verstehen, im Falle der Kunst die Suche nach neuen Möglichkeiten, etwas darzustellen.“ meint Zeilinger. [1]

Es gab Zeiten, in denen die Wissenschaften als Teil des Kosmos der Künste gesehen wurden und das Ringen um wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt als künstlerische Tätigkeit.

Heute haben wir es mit dem umgekehrten Phänomen zu tun:  Die Wissenschaften haben den Begriff der Forschung für ihren Bereich monopolisiert. Forschung im Zusammenhang mit den Künsten wird allzu oft noch immer als wissenschaftliche(!) Forschung über Kunst oder bestenfalls als wissenschaftliche Forschung mit künstlerischer Illustration gesehen.

Zeitweise und mancherorten führte diese Entwicklung sogar dazu, dass gewissenmaßen in einem Verzweiflungsreflex versucht wurde, die Kunst selbst als eine Art Wissenschaft zu stilisieren, wohl um der Kunst die Aura des Bedeutungsvollen zu geben, die sie offenbar zwischenzeitig verloren hatte. Und natürlich hatte diese Veränderung der gesellschaftlichen Gewichtung der Künste nicht zuletzt einen politischen und ökonomischen Hintergrund; in den veränderten politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen fanden die Repräsentanten der neuen gesellschaftlichen Kraftfelder offenbar andere, wirksamere Methoden bzw. Medien zur Sicherung und Ausweitung ihrer Machtsphären, als die Künste. Die so genannte Autonomisierung der Kunst, die alles andere als ein  selbstbestimmter Befreiungsschlag der Künstler selbst war, hatte ihren Preis.

Dass ausgerechnet die Quantenphysik den Zugang zur Welt der Kunst findet, ist durchaus logisch.

„Die Welt der Kunst ist die eines anderen Realitätsprinzips, ist die einer Verfremdung – und nur als Verfremdung erfüllt die Kunst eine Erkenntnisfunktion; sie spricht Wahrheiten aus, die in keiner anderen Sprache auszusprechen sind.“ erklärt Herbert Marcuse. [2]

Bei den im Rahmen der Documenta 13 und in der Wiener Galerie Ulysses gezeigten quantenphysikalischen Experimenten ging es um das, was Einstein einst als „spooky action at a distance“ nannte. Verschränkte Lichtteilchen können Hunderte Kilometer weit voneinander entfernt sein. Und trotzdem: Wenn man an dem einen eine Messung vornimmt, tut sich sofort etwas an dem anderen. Die beiden sind auf eine Weise miteinander verbunden, die der Verstand nicht erfasst.

Ludwig Wittgenstein verschränkt in zwingender Stringenz Begriffsebenen von Tatsachen und Bildern:

2.1

Wir machen uns Bilder der Tatsachen.

2.12

Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.

2.19

Das logische Bild kann die Welt abbilden.

2.203

Das Bild enthält die Möglichkeit der Sachlage, die es darstellt.

3

Das logische Bild der Tatsache ist der Gedanke.

3.1

Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.

4.01

Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.[3]

Dass ausgerechnet der in seiner logischen Strenge und semantischen Reduktion kaum zu übertreffende Wittgenstein in seinem nicht sehr langen „Tractatus logico philosophicus„ 99 Mal die Worte Bild, Abbild und abbilden verwendet, erscheint nur auf den ersten Blick überraschend.

„Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zu einander, die zwischen Sprache und Welt besteht“ schreibt Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus[4] und verleiht dem Begriff des Abbildes damit eine dynamische Dimension der Verbindung von Möglichkeiten und Beziehungen.

Ein Gemälde kann ein aufgespanntes Stück Textil mit Farbpigmenten darauf sein, einen Menschen mit einer Fahne darstellen oder ein Aufruf zur Revolution sein.

Man kann ein schwarzes Quadrat sehen, oder eine Infragestellung des gesamten ästhetischen und  intellektuellen Ordnungssystems.

Der Eindruck , den ein in Foto, ein Video, ein Gegenstand, ein Gebäude auf der Netzhaut des Betrachters hinterlässt ist notwendig, aber nicht hinreichend. Entscheidend ist die Wirkung im Kopf. Und die hängt von der Herstellung von Erfahrungs- und Deutungszusammenhängen ab.

Hans Hollein hat eine Pille auf einem Blatt Papier appliziert. Und darunter schreibt erden Satz: „Einfamilienhaus in ländlicher Umgebung.“

 

In seinem Buch „Die Wende – Wie die Renaissance begann“ erzählt Stephen Greenblatt die Geschichte der Wiederentdeckung eines Gedichts, das Titus Lucretius Caro im 1 Jh. v. Chr. schrieb: De rerum natura –Von der Natur.

„Als es nach einem Jahrtausend plötzlich wieder Verbreitung fand, erschien vieles absurd, was dieses Werk über ein Universum sagte, das entstanden sein sollte aus dem Zusammenstoß von Atomen in einer unendlichen Leere. Ausgerechnet das jedoch, was zunächst als gottlos und unsinnig betrachtet wurde, hat sich später als Basis unseres gegenwärtigen, rationalen Weltverständnisses erwiesen.“[5]

Greenblatt betont in seinem Buch, dass ein einzelnes Ereignis natürlich nicht alleine verantwortlich für eine derart große und umwälzende Veränderung der Welt, wie sie die Renaissance brachte, sein kann; dennoch weist er dem Gedicht von Lucretius Carus eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Entwicklung der Renaissance zu, einer Geschichte, die das Bewusstsein der Menschen und ihrer Rolle in der Welt verändern sollte.

Und nicht nur das: Als besonders überraschend erscheint ihm die Tatsache, dass es ein Poet war, der  mit seinem Werk und mit der spezifischen Art eines Poeten zu denken und zu formulieren, den Lauf der Geschichte so nachhaltig zumindest mit beeinflussen sollte. 

Warum erscheint uns die Idee, dass ein Gedicht die Welt verändern könnte, heute so fremd?

Und was hat es auf sich, dass die Begriffe Forschung und Kunst noch immer so schwer zusammengehen?

 

In der bisweilen heftig geführten Diskussion, ob „künstlerische Forschung“ überhaupt eine zulässige Begriffskombination sei, wird häufig angeführt, dass wissenschaftliche Forschung durch Objektivität, Rationalität und Systematik gekennzeichnet sei, während die Kunst durch Subjektivität, Emotionalität und Intuition charakterisiert werde, weshalb die Begriffe „Kunst“ und „Forschung“ einander ausschließen würden. Dass sich in dieser Schlussfolgerung selbst eine logische Lücke auftut, wird dabei geflissentlich übersehen.

Hier zeigt sich wieder einmal, dass lange tradierte semantische Konnotationen eine besonders hohe Reflexionsresistenz haben.

Natürlich hat es künstlerische Forschung schon immer gegeben. Auch wenn sie nicht so genannt wurde. In der Musik ebenso wie in der bildenden Kunst.

Monteverdi hat die Musik revolutioniert, indem er die Form der Oper entwickelte.

Was macht Nikolaus Harnoncourt aus Monteverdi, aus Mozart oder sogar Johann Strauß?

Oder ein anderes Beispiel. Das Concerto de Aranjuez von Joaquin Rodrigo – und was hat Miles Davis daraus gemacht?

Der Durchbruch vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild ging einher mit der Entwicklung der Zentralperspektive in der Renaissance-Malerei. Bei beiden paradigmatischen Umbrüchen wurde der Ausgangspunkt für den Blick auf die Welt zu einem Fixpunkt außerhalb des irdischen Geschehens verlagert.

Die Kubisten, zum Beispiel Georges Braque, lösten  die visuelle und intellektuelle Relation  zwischen Material, Form, Zeit und Ort auf; - ein paar Jahre bevor Einstein seine Relativitätstheorie formuliert und Heisenberg mit seiner Unschärferelation die herkömmliche Vorstellung von Wirklichkeit für obsolet erklärt hatte.

Es geht nicht darum zu beweisen, dass die Künstler die besseren Ingenieure oder Physiker sind. Aber diese wenigen Beispiele zeigen, dass es vielleicht unsichtbare Verbindungslinien zwischen künstlerischer Kreativität und wissenschaftlich-technischer Innovation gibt, die manchmal auch mit dem vagen Begriff „Zeitgeist“ umschrieben werden.

Ironischer weise haben uns gerade die modernen Naturwissenschaften gelehrt, dass die entscheidenden Ideen nicht immer entlang einer vorhersehbaren Zeitleiste oder nach dem Muster der linearen Kausalität daher kommen.

Künstlerische Forschung schon immer gegeben. Und es gibt sie bis heute. Von Christoph Schlingensief bis Brigitte Kowanz. Von Joseph Beuys bis Erwin Wurm.

 

Kunst hatte und hat sehr oft zu tun mit der Suche nach neuen Dimensionen. Im Zusammenwirken mit den Wissenschaften oder ohne. Künstlerische Forschung ist wie ihre wissenschaftliche Schwester das organisierte Streben nach Erkenntnis. 

 

"Der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ist nicht der zwischen Gefühl und Tatsache, Eingebung und Folgerung, Freude und Überlegung, Synthese und Analyse, Empfindung und Reflexion, Konkretheit und Abstraktheit, Passio und Actio, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit oder Wahrheit und Schönheit, sondern eher ein Unterschied in der Dominanz bestimmter spezifischer Charakteristika von Symbolen".[6]

Und der Unterschied ist auch der, dass neue wissenschaftliche Forschung frühere Ergebnisse ersetzt, während künstlerischer Erkenntnisgewinn neben den früheren tritt. Kopernikus hat Ptolemäus widerlegt. Aber Picasso hat Michelangelo nicht ungültig gemacht.

Doch was ist der Grund, dass ausgerechnet in den letzten Jahren der Begriff der künstlerischen Forschung auftauchte und dass die Tatsache von der Kunst als Forschung so heiß umstritten ist?

Hans-Jörg Rheinberger stellt die These auf, ,,dass die Trennung von Wissenschaft und Kunst auch ein Kollateralschaden der sozialen und kommunikativen und distributiven Stabilisierung der jeweiligen Systeme Wissenschaft und Kunst sein könnte „und weniger den Bedingungen der Schaffung epistemischer und künstlerischer Werte geschuldet ist“.[7]

 

Und in der Tat scheint es um territoriale Machtkämpfe zwischen dem System Wissenschaft und dem System Kunst zu gehen. Gerade in Zeiten ökonomischer Krisen liegt natürlich die Erklärung dafür nahe, dass dahinter nicht zuletzt Strategien für das Absichern oder Verbessern der eigenen Situation bei der Verteilung knapper budgetärer Ressourcen steht. Schließlich ist die Diskussion über die künstlerische Forschung ab 2007 und besonders in Europa so richtig in Fahrt gekommen. Mit der Umbenennung von Kunsthochschulen in Kunstuniversitäten, wie mancherseits behauptet wird, hat die Debatte um Kunst als Forschung sicher nichts zu tun. Denn diese bildungspolitische Maßnahme war auf Österreich beschränkt, während die Debatte um Artistic Research in den nordischen Staaten Europas den Ausgang nahm, wo die tertiären Bildungseinrichtungen in der jeweiligen Landessprache nach wie vor entweder als Kunsthochschulen bezeichnet werden oder Teil einer großen wissenschaftlich-künstlerischen Universität waren und sind. Was jedoch abgesehen von ökonomischen Gründen die territorialen Machtkämpfe zwischen den Systemen Kunst und Wissenschaft  befeuert, ist die Auseinandersetzung um die Bedeutungshoheit bei der Welterklärung und mehr noch die Definitionsmacht um die Begriffe Zukunft und Fortschritt im Zusammenhang mit der Entwicklung unserer Gesellschaften.

 

Wie hat Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen diese Situation ausgedrückt? „Die Grenzen der Kunst verengen sich in dem Maße, in dem sich die Grenzen der Wissenschaft vergrößern.“[8]

Die Zeiten, in denen Walter Benjamin die Kunst als Statthalterin der Utopie bezeichnete, diese Zeiten scheinen weit zurück zu liegen.

Eine Gesellschaft, die der Ideologie einer sofortigen und unmittelbaren Verfügbarkeit und Wirksamkeit von Waren und emotionalen Reizen verpflichtet ist, scheint zunehmend weniger Kraft, Zeit und Interesse zu haben an differenzierten Denk-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen.  

Und einige wenige blicken staunend auf die Medizin und die Naturwissenschaften, wo in Dimensionen gedacht und experimentiert wird, die radikaler, provokanter und weitreichender sind an gesellschaftlicher Sprengkraft, als es künstlerische Ansätze und Aktionen je waren.

 

Eine der signifikantesten Entwicklungen unserer modernen Welt ist die zunehmende Existenz von Verunsicherung. Von der Heisenberg’schen Unschärferelation, über Schrödingers Katze, die quantenmechanisch gleichzeitig lebendig und tot ist. Vom atemlosen Schritthalten in der digitalen Informationsgesellschaft bis zur Angst vor dem totalen Überwachungsstaat. Von der Krise der politischen Institutionen bis zur Krise des Finanzsystems. Jürgen Habermas hat vor 10 Jahren die Verdrängung der Politik durch den Markt beschrieben. Und jetzt spielt auch der Markt verrückt. Ungewissheit dominiert unser Lebensgefühl. – Aber kann man Ungewissheit abschaffen? Verunsicherung verbieten?

 

Was wir jetzt ganz aktuell erleben, ist der Umstand, dass Menschen, die in unserer angeblich aufgeklärten Gesellschaft sozialisiert wurden, aus dieser verunsichernden Welt versuchen zu fliehen. Sie suchen Sicherheit, einfache Antworten, Gewissheit und keine Zweifel. 
Die Flucht vor dem Zweifel ist die Flucht vor der Aufklärung!

 

Die Existenz einer aufgeklärten Gesellschaft hängt davon ab, ob und inwieweit es gelingt, mit Ungewissheit, Skepsis, Veränderung, Erneuerung produktiv umzugehen, diese als konstitutive Elemente von zivilisatorischem Fortschritt aktiv zu akzeptieren. Gewissheit ist die Domäne der Fundamentalisten. Während Ungewissheit, der Umgang mit dem Unerwarteten, die Domäne der Kunst ist.

Expect the unexpected! Von Claudio Monteverdi bis zu Arnold Schönberg. Von Miles Davis’ Bitches Brew bis Björk’s Biophilia. Von Michelangelo’s David bis Picasso’s Guernica. Von Warhol’s Campbell Soup Can bis zu Erwin Wurm’s Narrow House. Von Damian Hirst’s Tigerhai in Formaldehyd bis zu Santiago Sierra’s Synagoge als Gaskammer. Von William Shakespeare bis Charles Baudelaire. Von Heinrich Heine bis Karl Kraus. Von Arthur Schnitzler bis Salman Rushdi.

Heute ist es schwer sich vorzustellen, wie sehr sich die Arbeitswelt, unser ganzes Leben, durch die technologische, insbesondere digitale Revolution verändern wird. Es ist schwer vorzustellbar, was es bedeutet, dass in ein paar Jahren die Verbraucher in der Lage sein werden, eine breite Palette von Produkten zu Hause oder in digitalen 3D-Druckereien produzieren zu können - so wie heute Fotos, dass Mobilität weitgehend fahrerlos stattfinden wird und dass selbst bestimmte Arbeiten aus dem Sektor der Kreativwirtschaft von Algorithmen und intelligenten Programmen gesteuert werden. Und noch weniger sind wir in der Lage, uns vorzustellen, welche Änderungen unser Leben durch Biotechnologie und Quantenphysik erfahren wird. Wir wissen nicht,  wie all diese Veränderungen unsere Kultur beeinflussen werden. Aber das werden sie. Wie unsere Zivilisation damit umgeht, ist nicht zuletzt eine Frage, wie wir mit dem Begriff Innovation umgehen. Es macht einen Unterschied, ob man Innovation als Domäne von Technik, Naturwissenschaften und Ökonomie begreift und betreibt, oder ob wir Innovation als zivilisatorischen Prozess sehen, in dem es um holistisches Denken und Handeln geht, wo Phantasie und Kreativität einen notwendigen Platz haben.

 

 Das 20. Jahrhundert hat diesen Planeten – oder weite Teile davon - von einer Welt der Gewissheit in eine Welt des Infrage Stellens und Zweifelns verwandelt. Und die Künste waren an dieser Beeinflussung der Weltsicht mindestens so beteiligt, wie die Wissenschaften. Ja, wenn man genauer hinschaut auf die Parallelitäten in der Kunstgeschichte und der Wissenschaftsgeschichte, insbesondere des frühen 20. Jahrhunderts, von den grundlegenden Umwälzungen in Musik, bildender Kunst und Design bis hin zu den Paradigmenwechseln in Physik, Psychologie und Medizin, dann wird sogar deutlich, wie stark die Wechselwirkungen zwischen den scheinbar getrennten Sphären waren. Da wird deutlich, wie die Macht von Wissenschaft und Kunst noch potenziert werden kann, wenn die beiden in einen konstruktiven Austausch treten – im Bewusstsein sowohl ihrer eigenen Stärke und Identität aber auch im Bewusstsein des synergetischen gesellschaftlichen Wirkungspotenzials–jenseits der Citation-Indices und Kunstmarkt-Rankings. 

 

Klimawandel, sowie globale Flucht- und Migrationsbewegungen verändern Lebensbedingungen und soziale Identitäten. Die Veränderung der Altersstruktur und soziale Ungleichheit stellen neue Herausforderungen an das Zusammenleben in zunehmend urbanisierten Gesellschaften. Die Entwicklungen in den Bereichen Artificial Intelligence und Biotechnologie stellen die künftige Rolle des Menschen auf dem Planeten grundsätzlich und radikal zur Diskussion. In einer von Artificial Intelligence, Digitalisierung und Robotik geprägten Welt, wird der Mensch nur mehr durch kreative Denkprozesse gesellschaftliche und wirtschaftliche Wirkungskraft erzielen können.  Also durch Prozesse, die auf bisher ungedachte oder als undenkbar gehaltene Weise Verbindungen zwischen bekannten und daher zunehmend automatisierbaren Handlungs- und Wissensfeldern herstellen.

 

In dieser Situation kommt den Faktoren Bildung und Forschung existenzielle Bedeutung für die Zukunft unsere Gesellschaften zu. Und in dieser Situation wird auch das Ringen der Kunst um ihre gesellschaftliche Positionierung in den Bereichen Bildung und Forschung nachvollziehbar. Es geht dabei aber um mehr als um die gerechte Teilhabe der Kunst an Geld und Image für die Ausübung gesellschaftlichen Gestaltungspotenzials.

Künstler sind Experten für den Umgang mit Unsicherheit und Ambiguität.

Nicht-lineares Denken. Imaginationsfähigkeit. Unkonventionelle Zusammenhänge herstellen. Vertrautes hinterfragen. Neue Szenarien entwickeln.

All das ist vertrautes Terrain von Künstlerinnen und Künstlern.


Unser Gehirn hat Myriaden von Nervenzellen. Bloßes Wachstum von Nervenzellen im Gehirn, ihre Vermehrung allein reicht nicht aus, um die Gedächtnisleistung zu steigern. Entscheidend sind die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen. Sie sind es, die das Potenzial von bloßer Information produktiv werden lassen. Entscheidend sind die Qualität und die Reaktionsgeschwindigkeit der Verbindungswege zwischen den einzelnen Zellregionen.

Ebenso verhält es sich mit der Wissensgesellschaft: Die Verbindungslinien, die Kommunikation zwischen den Wissenszweigen bestimmen den Wirkungsgrad des Wissens in der Gesellschaft. Ohne ausreichend funktionsfähige Wissens-Synapsen bleiben die Wissenstürme isoliert und selbstreferentiell – da mögen sie noch so hoch aufragen.


If ever there was a need to stimulate creative imagination and initiative on the part of individuals, communities and whole societies the time is now. The notion of creativity can no longer be restricted to the arts. It must be applied across the full spectrum of human problem-solving.”[9]

 

Schon 2009 hat der European Research Area Board einen Paradigmenwechsel im Denken und in der Rolle der Wissenschaft gefordert: Ein neues holistisches Denken sei notwendig, Wissenschaft und Forschung sollten mehr auf die systemischen Effekte achten, als auf die engen Ziele. „Preparing Europe for a New Renaissance“ war der Titel des Berichts[10]. Im Jahr 2012 stellte dann der dritte ERA-Board Bericht die Frage: „The new Renaissance: will it happen? Innovating Europe out of the Crisis.“[11]

Und die Realität?

Unser Bildungs- und Forschungssystem – und nicht nur das österreichische! – arbeitet nach den Prinzipien Spezialisierung und Fragmentierung – Prinzipien, die der Logik der industriellen Revolution entsprochen haben.  Prinzipien, die bis in den Übergang von der Dienstleistungsgesellschaft zur Wissensgesellschaft hinein ihre Gültigkeit hatten und die sich nicht zuletzt auf die Entwicklung der Forschungslandschaft ausgewirkt haben. Ein Blick in das Frascati Manual mit der Liste wissenschaftlicher Disziplinen von 1980 und von 2014macht deutlich, was ich meine!

In den 1950er Jahren entwarf Marino Auriti einen riesigen, 700 Meter hohen Turm, der als Aufbewahrungsort für das Wissen der Menschheit dienen sollte. Er wurde niemals gebaut, denn Auritis Wissensturm hätte schon Mitte des 20 Jahrhunderts längst nicht ausgereicht, um auch nur das Wissen einer Disziplin darin zu speichern. Die Assoziation zu Breughel’s Gemälde „Turmbau zu Babel“ ist da naheliegend. Ein Modell des „Encyclopedic Palace of the World“ wurde aber bei der Kunstbiennale in Venedig im Jahr 2013 ausgestellt.

 

Friedrich Kiesler, der 1926 aus Österreich in die USA ausgewanderte visionäre Denker, Architekt und Designer, entwickelte in den 1930er Jahren seine Theorie, die unter Aufhebung aller Kunstgattungen und unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, Mensch und Umwelt als ganzheitliches System komplexer Wechselbeziehungen versteht.[12] Correalismus nannte er diese Theorie, die heute von ungeahnter Aktualität ist. Kieslers Überzeugung, dass visionäres Denken zugleich realistisches Denken ist, macht Mut in Zeiten zunehmender Mutlosigkeit.

 

Die Tatsache, dass die Komplexität unserer Gesellschaften und der menschlichen Lebensbedingungen in dramatisch anwachsender Geschwindigkeit zunimmt, wird immer deutlicher sichtbar. Und es steigt das Bewusstsein, dass diese Komplexität mit der linearen Fortsetzung oder auch Intensivierung dessen, was schon existiert, in kurzer Zeit nicht mehr beherrschbar sein wird.  

Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Kompetenzen es zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen braucht, dann wird auch klar, dass die Rolle der Kunst als Gestaltungsfaktor in Bildung und Forschung eine Notwendigkeit ist.

Mit einem Bildungs- und Wissenschaftssystem, das in den letzten Jahrzehnten aus vielen – auch guten – Gründen geprägt war von Fragmentierung, Spezialisierung und intellektueller Arbeitsteilung, während die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten gleichzeitig von der Komplexität einer wachsenden und in ihren Wechselwirkungen immer unübersichtlicher werdenden Zahl von Faktoren bestimmt wird, versuchen wir verzweifelt die lineare Gestaltungslogik  des Industriezeitalters aufrecht zu erhalten. Dass dies in einer Welt, in der alles mit allem in ungewöhnlichen, oft auch verstörenden neuen Kausalitäten zusammenhängt, wird immer deutlicher. Das Kombinieren von Wissen in ungewöhnlichen Zusammenhängen wird im digitalen Zeitalter, wo Algorithmen den Menschen ihr gestalterisches Rollenbild auf diesem Planeten streitig machen, in naher Zukunft wichtiger werde, als der Erwerb, das Speichern und die Reproduktion von Wissen. Creative skills, also das Denken in Alternativen, Bestehendes Hinterfragen, das Herstellen von ungewöhnlichen Zusammenhängen, assoziatives Denken, das sind die zentralen Kulturtechniken für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts,die notwendig sind,  um dem intellektuellen Errungenschaften in den hoch spezialisierten Wissensdisziplinen ihre Wirksamkeit zu verleihen.

„It is time to take a creative risk of valuing imagination, the poetic, the symbolic, the aesthetic or the spiritual (features of culture-based creativity) as factors of innovation, social progress and European integration“ war schon 2009 in einem Bericht über „The Impact of Culture and Creativity“ für die Europäische Kommission zu lesen.[13]

Ja, nehmen wir das Risiko von Transdisziplinarität unter Einschluss der Künste an. Ohne die unterschiedlichen Identitäten von Wissenschaft und Kunst zu verwischen. Denn: INNOVATION IS THE ART OF TAKING RISKS.



[1] Kunst als Wissenschaft, Interview mir Anton Zeilinger, Trend, 11.6.2012, http://www.trend.at/service/die-redaktion-empfiehlt/kunst-wissenschaft-330626

 

[2] Marcuse, Herbert (2004): Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik (1977). In: Marcuse, Herbert: Schriften, Bd. 9. Urspr. Frankfurt am Main 1978-1989. Nachdruck Springe, S. 195

 

[3] Wittgenstein, Ludwig: Tractatus Logico Philosophicus, LONDON

KEGAN PAUL, TRENCH, TRUBNER & CO., LTD.

NEW YORK: HARCOURT, BRACE & COMPANY, INC.

1922

 

[4] Wittgenstein, Ludwig: Tractatus Logico Philosophicus, 4.014, S. 108,  LONDON

KEGAN PAUL, TRENCH, TRUBNER & CO., LTD.

NEW YORK: HARCOURT, BRACE & COMPANY, INC.

1922

 

[5] Greenblatt, Steven: Die Wende. Wie die Renaissance begann. S 20f, Siedler Verlag München, 2012

[6] Goodman, Nelson: ,,Sprachen der Kunst“, S. 243, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974)

[7] Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment, Forschung, Kunst

Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft, Oldenburg, April 2012, http://www.dramaturgische-gesellschaft.de/assets/Uploads/ContentElements/Attachments/Hans-Joerg-Rheinberger-Experiment-Forschung-Kunst.pdf

 

[8] Schiller, Friedrich: Ästhetische Erziehung des Menschen, 2. Brief, S. 5, Vollständige Neuausgabe, herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2013, Sammlung Hofenberg

 

[9] World Commission on Culture and Development, UNESCO 1995. http://portal.unesco.org/culture/en/ev.php-URL_ID.15019&URL_DO.DO_TOPIC&URL_SEC- TION.201.html

 

[10] European Research Area Board, Preparing Europe for a New Renaissance,  https://ec.europa.eu/research/erab/pdf/erab-first-annual-report-06102009_en.pdf

 

[11] European Research Area Board, Final Report, The new Renaissance: will it happen? Innovating Europe out of the Crisis. http://ec.europa.eu/research/erab/pdf/3rd-erab-final-report_en.pdf

 

[12] Kiesler, Frederick: On Correalism and Biotechnique. A Definition and Test of a New Approach to Building Design. In: Architectural Record. 86.3 (September 1939). 60-75.

[13] THE IMPACT OF CULTURE ON CREATIVITY. A Study prepared for the European Commission (Directorate-General for Education and Culture), June 2009, http://www.keanet.eu/docs/impactculturecreativityfull.pdf