Gerald Bast:

Über Kunst und Wissenschaft, Derivate und Nischen, eine kostbare Pflanze und einen Traum von der Wiedergeburt

Vortrag beim Europäischen Forum Alpbach 2010

 

Manche haben ja daran gezweifelt, ob ein Alpbacher Universitätenforum über Kunstuniversitäten überhaupt auf genügend Interesse stoßen würde. Wie man sieht, waren die Zweifel unbegründet.  Ja, so ist das mit der Kunst – völlig unberechenbar!

In diesem Sinne lassen Sie mich mit meinen Ausführungen beginnen. Sie werden etwas über Kunst und Wissenschaften hören, über Derivate, Brücken und Nischen,  über eine kostbare Pflanze und über den Traum von einer Wiedergeburt. Und das in 15 Minuten.

Zum Anfang ein Zitat: „Bei einer wissenschaftlichen Theorie weiß man, noch ehe sie bewiesen ist, dass sie richtig ist, weil sie ästhetisch befriedigend ist. Nicht weil sie logisch in sich stimmig ist, sondern einfach, weil sie sich ‚richtig anfühlt‘“. Zit. Ende.

Das sind nicht die Worte irgendeines obskuren Esoterikers. Nein, Prof. Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung hat das geschrieben.

Er behauptet, bei der wissenschaftlichen Theoriebildung  benutze man Kriterien, die weit über das hinausgehen, was man logisches Schließen nennt. Kreativität ist für Singer in der Wissenschaft ebenso wie in den Künsten  „die Fähigkeit, etwas zusammen zu sehen, was bisher noch nicht zusammen gesehen worden ist,“ Bezüge herzustellen, die nicht beliebig sind“. Der Hirnforscher ist der Überzeugung, „dass mit allem, was sich nicht-rationaler Sprachen bedient – die bildende Kunst, die Musik, der Tanz – ein Wissen transportiert wird, das über die rationale Sprache nicht transportiert werden kann […] Aber hierzu müssen die Sprachen der Kunst erlernt werden.“

Warum erzähle ich ihnen das?

Weil die Kunstuniversitäten die letzten Bastionen in diesem Land sind, die diese Sprachen der Kunst noch ernsthaft vermitteln. An den Primar- und Sekundarschulen führt die Kunst – wenn überhaupt - ein kümmerliches Dasein - systematisch zurückgedrängt zugunsten „nützlicher“, „verwertbarer“ Fächer.

Und was erleben wir jetzt in hochschulpolitischen Diskussionen?

Gespart muss werden, so heißt es. Außer vielleicht bei den MINT-Fächern.

„MINT oder Masse“ lauten die schrillen Alternativen, die man den Jugendlichen derzeit anpreist.

So treibt man den  Keil weiter hinein in unser Bildungssystem und in unsere Gesellschaft, die noch immer geprägt sind vom Geist der industriellen Revolution, deren Motoren Fragmentierung, Spezialisierung und Rationalisierung waren.

Aber nicht Spaltkeile wären jetzt gefragt für unser Bildungssystem, sondern Brücken, intellektuelle und emotionale Brücken. Brücken, die künstlerisches Gestaltungswissen und Kreativität als unverzichtbare Grundpfeiler gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung erkennen und nicht bloß als nette Luxus-Attitüde einer kleinen Elite.  Brücken, die Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft synergetisch miteinander vernetzen. –

Aber in der Realität werden Brücken auf Euro-Scheine gedruckt.  -  Was für ein Symbol !!

Das gesellschaftliche und politische Wertesystem befindet sich am Beginn des 21. Jahrhunderts unübersehbar am Höhepunkt einer dramatischen Wandlung:

Anstelle der Bedürfnisse von Individuen oder der Interessen bestimmter Bevölkerungsschichten steht ein scheinbar anonymer, ja radikal-entpersonalisierter „shareholder value“ im Zentrum der wirtschaftlichen und politischen Prozesse. Der primäre Fokus gesellschaftlicher Entwicklung liegt nicht mehr auf der Frage der persönlichen Entwicklungsmöglichkeit von Menschen – ganz egal, ob es sich um Unternehmer oder Lohnabhängige handelt -, sondern das primäre Interesse gilt der Entwicklung von (fiktiven) Kapitalwerten. Menschliches Wohlergehen ist bloß noch ein Derivat des „Shareholder Value“, etwas, das sich daraus als Folgewirkung ergibt - wenn es sich ergibt. Die tollkühnen Konstrukteure der abenteuerlichsten Finanzderivate, haben das gesellschaftliche Steuerrad übernommen, so scheint es. Den von ihnen geschaffenen selbstreferenziellen Systemzwängen stehen Politiker ebenso hilflos gegenüber, wie UnternehmerInnen.

Ich bin sicher, dass derzeit im Gefolge der Naturkatastrophen in Russland, China und Pakistan auf den internationalen Börsen schon wieder eifrig auf das Ausbrechen weltweiter Hungersnöte gewettet wird. - Mit hohen Gewinnchancen.

Was hat das alles mit Kunst, mit Wissenschaft und mit universitärer Bildung  zu tun, werden Sie vielleicht fragen.  

„Die Universitäten sind berufen, verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen und zur gedeihlichen Entwicklung  der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen.“ Ein schöner Satz. Nachzulesen im Zielparagrafen des geltenden Universitätsgesetzes. Wie oft haben wir schon gehört oder selbst gesagt: Die Welt, in der wir leben, wird immer komplexer. Aber was ist das Problem daran? Nicht so sehr, dass immer mehr Erkenntnisse produziert werden, immer mehr künstlerisches und wissenschaftliches Wissen  sich vor uns auftürmt.

Das, was immer häufiger Unbehagen und Unsicherheit verursacht, ist die Tatsache, dass wir vor einem System multipler Wirkungszusammenhänge stehen, einem System, das in rasender Geschwindigkeit wächst und sich als immer vielfältiger und verzweigter darstellt.

„We cannot NOT change the world!“ heißt es auf der Social Design Website. Jedes Handeln und Unterlassen hat in diesem System Wirkungskraft. Es ist unmöglich, an der Veränderung der Welt NICHT teilzuhaben. Am allerwenigsten für Menschen mit universitärer Bildung. Wissen ist Macht. Der Satz gilt noch immer. 

Doch die Universitäten tragen dieser Art von Komplexität in ihrer Arbeitsweise, ihren Strukturen und in ihren Inhalten viel zu wenig Rechnung.

Die Geschichte der Wissenschaften ist in zunehmendem Ausmaß zu einer Geschichte der Spezialisierung, der Abtrennung und Abgrenzung geworden. Subdisziplinäre Nischenbildung war und ist das aktuelle Erfolgsmodell für wissenschaftliche Anerkennung und Karriere. Akademisches Cocooning. Jeder ist sich selbst genug.

Disziplinenübergreifendes wissenschaftliches oder gar wissenschaftlich-künstlerisches Zusammenarbeiten ist  die große Ausnahme an den Universitäten –in der Forschung und noch viel mehr in der Lehre.

Das Studium besteht heute in weiten Teilen aus dem konsekutiven Ablegen einer Unzahl von kleinen und kleinsten Prüfungsteilen über spezialisierte Lehrveranstaltungsinhalte aus dem wissenschaftlichen Nischengarten. Als Kommunikationsmethode wird dabei der „Multiple Choice Test“ immer mehr zum Standard. Für das Herstellen von Beziehungen zwischen verschiedenen Wissensfeldern fehlen Zeit und andere Ressourcen.

 In den Künsten sind die eben beschriebenen Tendenzen noch nicht so exzessiv vorangetrieben. Im Gegenteil: Die Künste und deren Studium waren und sind über weite Bereiche noch eine Antithese zu Fragmentierung und Spezialisierung. Aber eben auch hauptsächlich innerhalb der Grenzen der Künste.

Die Entwicklung der Künste ist hingegen exzessiv ausgelagert in den außeruniversitären Bereich:

Der Kunstmarkt steuert die Richtung der ästhetischen Innovation und nur er verleiht Wert und Reputation. Die Situation der Künste, umgelegt auf die Wissenschaften, würde bedeuten, das nur die Chemische Industrie entscheidet, was gute und wichtige neue Forschungsansätze in der Chemie sind oder dass die Zahl der im Buchhandel verkauften wissenschaftlichen Arbeiten in den Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften den wissenschaftlichen Wert dieser Arbeiten definiert. So etwas wie die scientific community mit wissenschaftlicher Definitionsmacht gibt es im Bereich der Künste nicht.  

Rühmliche Ausnahme ist das kleine aber kostbare Pflänzchen des österreichischen FWF-Programms zur Entwicklung und Erschließung der Künste. Dame Janet Ritterman wird später darauf noch zurückkommen.   Die Hoffnung ist groß, dass dieses Pflänzchen sich zu einem großen Baum der künstlerischen Erkenntnis  auswächst.

Der letzte Bericht des European Research Area Board steht unter der Überschrift: „Preparing Europe for a New Renaissance. Und der EU Wissenschaftskommissar weist im Vorwort zu diesem Bericht auf den Ansatz des ganzheitlichen Denkens hin, das in der Renaissance den Wissenschaftern und Künstlern zu eigen war. 

Nein meine Damen und Herren, das ist ganz und gar kein Zeichen von Romantizismus. Das zeugt vielmehr von klarem Realitätssinn.

Lassen Sie mich diese doch sehr grundsätzlichen Erwägungen nun mit zwei konkreten Vorschlägen abschließen:

1.    Die Europäische Union – das wird immer klarer - braucht eine Alternative zum Verharren im  Status einer bloßen Wirtschafts-, Währungs- und Agrarunion. Die Zukunft der Europäischen Union liegt in der Fokussierung auf Kreativität und Innovation. Das müssen die identätsstiftenden Werte der europäischen Zukunft sein. Die Sprachen der Kunst, ihre Entwicklung und Vernetzung mit anderen Sprachen, sind dafür unentbehrlich.

Das 8. EU-Forschungs-Rahmenprogramm ist gerade in der Planungsphase. Wenn die EU ihre eigenen Schlagworte wie Kreativität, Innovation und ganzheitliches Denken ernstnehmen will,  - und Glaubwürdigkeit ist ein Grundproblem der EU - so bedeutet dies, dass künstlerische und künstlerisch-wissenschaftliche Grundlagenforschung Teil des 8.Rahmen-Programms werden müssen. Das Vorbild dafür gibt es in Österreich.

Und viele EU-Staaten beneiden uns darum.

Jetzt, Fr. BM, müssen Sie Ihre Kolleginnen im EU-Ministerrat nur noch davon überzeugen, das Modell des FWF-Programms zur Entwicklung und Erschließung der Künste auf EU-Ebene abzubilden.

2.     

Auf Österreich bezogen:

Es ist  richtig, die Sinnhaftigkeit von Zehntausenden, noch dazu absolut inferior ausgestatteten Studienplätzen in Publizistik, Psychologie, Betriebswirtschaftslehre, Architektur und dergleichen „Massenstudien“ anzuzweifeln. Aber es ist ebenso zweifelhaft, ob die Lösung darin bestehen kann, lediglich die Zahl der Studienplätze auf dem Niveau der letzten Jahre einzufrieren. Dadurch kann man Studierwillige nur entweder von den Universitäten ganz abhalten oder in verwandte Studienrichtungen abdrängen. Beides scheint wenig erstrebenswert.

Richtig ist auch, dass man das Studienwahlverhalten bildungspolitisch klug und effizient steuern muss. Aber ist es realistisch, zu erwarten, dass die Interessen von Leuten, die eigentlich Publizistik, Psychologie, Architektur oder BWL studieren wollen, bloß durch mehr Studieninformation mehrheitlich auf Technische Physik oder Biochemie umgepolt werden könnten? Da müsste man wohl früher, in der Schule ansetzen. Und: Wäre die Umleitung von Studentenströmen auf vorhandenen Bildungswegen wirklich eine zukunftsträchtige Lösung?

Im Sinne meines Apells zum Brückenbauen finde ich, man sollte diesen jungen Menschen neben Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Studien auch  bildungspolitisch, gesellschaftspolitisch und wirtschaftspolitisch sinnvolle und attraktive Alternativen anbieten!  

Also: Lassen Sie uns doch in einem Pilotmodell versuchen, ein neuartiges, interdisziplinäres wissenschaftlich-künstlerisches Grundlagenstudium auf die Beine zu stellen. Unter Beteiligung mehrerer Universitäten.

Ein Studium,  in dem der Erwerb von Schlüsselkompetenzen im Vordergrund steht. Kompetenzen, die auch von der Wirtschaft stets eingefordert werden: Analysefähigkeit, die Fähigkeit in Zusammenhängen zu denken und zu handeln, Kreativität,  Reflexionskompetenz und Kommunikationskompetenz.  

Ein projektzentriertes Studium mit alternativen Lehr- und Lernformen, das nicht geprägt ist von traditionellen Lehrveranstaltungen im Wochenstundentakt,

sondern vom Wechselspiel zwischen Vorträgen und Workshops, Selbststudium, regelmäßigen Projektpräsentationen, studentischen Tutorials und Feedbacks unter systematischer Einbeziehung von Expertinnen aus unterschiedlichen Disziplinen und Berufsfeldern.

Ein interdisziplinäres Bachelor-Studium, das Brücken schlägt zwischen den Bereichen Kunst und Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft sowie  Naturwissenschaften und Technik.

Im Vergleich zu den oft genannten traditionellen „Massenstudien“, die in vielen Fällen unter falschen oder mit gar keinen konkreten Vorstellungen gewählt werden, könnte so ein innovatives Studienprogramm vielen Studierenden ein sinnvolleres Studium bieten und vielen AbsolventInnen eine bessere Basis für weitere Bildungs- und/oder Berufswege.

 

Freilich wird das nicht ohne Investitionen gehen. Aber Investitionen Frau BM, sind in jedem Fall erforderlich. Und es ist keine Frage, was sinnvoller ist: Den status quo der österreichischen Studienlandschaft flächendeckend auf internationale Standards in der Ausstattung zu bringen oder neue bildungspolitische Ansätze zu wagen. 

Letzteres würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr Universitäts-Absolventinnen mit mehr gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wirkungskraft führen.

 

Walter Benjamin hat einst gemeint: Die Kunst ist die Statthalterin der Utopie. Er gibt mir bei dieser, von den Kunstunis geprägten Veranstaltung, den Mut und die Legitimation, solche Vorschläge überhaupt zu machen. Wissend dass der Weg zum Fortschritt über Utopia führt.